Real Decreto-ley: Eine Notverordnung für Krisenzeiten (?)

Reformen werden in Spanien von der Regierung zunehmend im Wege eines Real Decreto-ley verabschiedet, was mit Königlichem Gesetzesdekret übersetzt werden kann. Eine vergleichbare Befugnis der Regierung ist dem deutschen Recht unbekannt, zumindest in dieser Reichweite. Aber was ist das eigentlich, ein Real Decreto-ley

Gesetzliche Bestimmungen können auf verschiedene Weise zustande kommen. Gewöhnlich werden die Gesetze vom Kongress und Senat nach einer Debatte verabschiedet. In Einzelfällen kann die Regierung einseitig Verordnungen erlassen, was einer vorherigen Ermächtigung auf dem Gesetzeswege durch das Parlament bedarf. Das Real Decreto-ley nimmt eine Zwitterstellung ein: Es erlaubt der Regierung ausnahmsweise per Erlass (decreto) einseitig und vorläufig gesetzliche Bestimmungen zu erlassen, die später vom Kongress per Gesetz (ley) zu bestätigen sind.

Seine Rechtsgrundlage findet das Real Decreto-ley in Artikel 86 der spanischen Verfassung, wonach die Regierung im Falle einer „aussergewöhnlichen und dringenden Notwendigkeit“ zu diesem Instrument der Gesetzgebung greifen kann. Es handelt sich damit um eine Art Notverordnung. Inhaltlich darf diese nur „vorläufig“ sein und nicht die grundlegenden Institutionen des Staates, die Grundrechte, die Selbstverwaltung der Autonomen Gemeinschaften und das allgemeine Wahlrecht zum Gegenstand haben. Der Erlass ist innerhalb von 30 Tagen ab Verabschiedung dem spanischen Kongress zu dessen Genehmigung vorzulegen. Eine Zustimmung des Senats ist nicht erforderlich. Bei Genehmigung verliert der Erlass seinen vorläufigen Charakter und erlangt dauerhafte Gültigkeit. Die Regierung kann innerhalb der gleichen Frist beim Kongress den Erlass auch als Gesetzesvorschlag (proyecto de ley) einbringen, der im beschleunigten Verfahren zu verabschieden ist. Dessen ungeachtet tritt das Real Decreto-ley regelmässig am Tage nach seiner Bekanntmachung in Kraft.

Bei der Beurteilung der „aussergewöhnlichen und dringenden Notwendigkeit“ steht der Regierung ein weiter Beurteilungsspielraum zu. De facto bedient sich die Regierung dieser Gesetzgebungstechnik um wichtige Reformvorhaben jeder couleur und in den unterschiedlichsten Bereichen zu verabschieden, wobei in allen Fällen „aussergewöhnliche und dringende Umstände“ angeführt werden. Ein berühmtes Beispiel stellt das Real Decreto-ley der Regierung Zapatero dar, das im Dezember 2010 neben einigen gesellschafts- und steuerrechtlichen Änderungen die Verwaltung des Luftverkehrs reformierte und aufgrund der nachfolgenden Arbeitsniederlegung der spanischen Luftlotsen auch über die Grenzen Spaniens hinaus grössere Bekanntheit erlangte. Ein anderes Beispiel ist die vorübergehende Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die von der Regierung Zapatero im September 2011 beschlossen wurde. Die gerade gewählte Regierung Rajoy stützte im Dezember 2011 die Steuerreform – ihre erste grössere Reform nach der Regierungsbildung – auf ein Real Decreto-ley. Im Jahr 2002 reformierte die Regierung Aznar das Arbeitsrecht auf diesem Wege genauso wie die Regierung Zapatero im Sommer 2010 und 2011 oder -als jüngstes Beispiel- die noch junge Regierung Rajoy, die am 10. Februar 2012 eine der tiefgreifendsten Reformen des Arbeitsmarkts in der jüngeren Geschichte Spaniens per Notverordnung verabschiedete. Im Jahre 2009 reformierte die Regierung Zapatero den Bereich der erneuerbaren Energien per Verordnung und die aktuelle Regierung Rajoy verabschiedete Ende Januar 2012 mit einem Real Decreto-ley wichtige Kürzungen in diesem Bereich. Selbst die Regelung des Pay TV (TDT de pago) im Jahr 2009 oder die Stromtarife im Jahr 2010 wurden auf diesem Wege verabschiedet.

Das Real Decreto-ley stellt ein mächtiges Instrument in den Händen der Regierung dar, insbesondere wenn diese wie im Falle der Regierung Aznar oder Rajoy über die absolute Mehrheit im Kongress verfügt. Selbst wenn dies nicht der Fall ist, beschränkt sich die Genehmigung des Kongresses letztlich auf die Frage, ob eine „aussergewöhnliche und dringende Notwendigkeit“ zum Erlass einer solchen Verordnung bestand. Der Kongress kann das Notdekret grundsätzlich nur als Ganzes genehmigen oder zurückweisen, sofern die Regierung die Verordnung nicht als Gesetzesentwurf (proyecto de ley) einbringt. Es besteht zwar auch die Möglichkeit, dass der Kongress selbst beschliesst, den Erlass als Gesetzesentwurf (proyecto de ley) zu verhandeln. Dies ist aber keineswegs der Regelfall, da die Regierung gewöhnlich über die notwendigen Mehrheiten verfügt. Der Unterschied besteht darin, dass bei der Verhandlung als Gesetzesentwurf inhaltliche Änderungen eingebracht werden können; bei der blossen Zustimmung zum Erlass nicht.

Das Real Decreto-ley unterliegt stets der Nachprüfung durch das spanische Verfassungsgericht. Dies gilt auch bei Zustimmung des Kongresses. Wie bei allen gerichtlichen Überprüfungen erfolgt diese aber zwangsläufig immer zeitlich verzögert. Zudem kann das Verfassungsgericht nicht von sich aus, sondern nur auf Antrag tätig werden. Bislang wurde nur in zwei Fällen vom Verfassungsgericht das Vorliegen einer „aussergewöhnlichen und dringenden Notwendigkeit“ verneint. Das bekannteste (und erste) Beispiel für eine solche Ablehnung ist die oben erwähnte Arbeitsrechtsreform der Regierung Aznar. Diese wurde im Jahr 2002 erlassen, aber erst im Jahr 2007 vom spanischen Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. In der Zwischenzeit entfaltete das im Volksmund als decretazo in die Geschichte eingegangene Real Decreto-ley seine volle Wirksamkeit. Dieses Beispiel zeigt auch wie schwierig es ist, die Uhren nachträglich zurückzudrehen, wenn die Dinge erst einmal in Gang gesetzt sind.

Zum anderen kann das Real Decreto-ley zu einer gewissen Unsicherheit beitragen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die ’nachträgliche‘ Wiedereinführung der Vermögenssteuer durch die Regierung Zapatero. Begann das Jahr 2011 noch ohne Vermögenssteuer, wurde diese per Real Decreto-ley im September 2011 für die Jahre 2011 und 2012 vorübergehend wieder eingeführt. Das Wörtchen ’nachträglich‘ steht deshalb in Anführungszeichen, da es sich technisch gesehen bei der Wiedereinführung nicht um eine rückwirkende Massnahme handelte. Dies liegt daran, dass bei der Vermögenssteuer der Stichtag der Besteuerung der 31. Dezember eines jeden Jahres ist, der dem Real Decreto-ley zeitlich nachfolgte. Praktisch blieb dem Betroffenen aber kaum Zeit, sich auf die Umstellung einzustellen, was wohl auch Sinn und Zweck der kurzfristigen Änderung war. Ähnliches gilt für die jüngste Steuerreform der Regierung Rajoy, die quasi über Nacht in Kraft trat und ein weit grösseres Publikum betrifft.

Das Real Decreto-ley gibt daher der Regierung die Macht kurzfristig und einseitig Fakten zu schaffen, die später aufgrund ihrer Folgen oftmals nur schwer rückgängig zu machen sind. Dies kann auch den Kongress bei der Frage der Zustimmung vor eine schwierige Entscheidung stellen. Dies mutet aus deutscher Sicht seltsam an. Die deutsche Verfassung kennt Notstandsregelungen, aber keine auch nur annähernd weite Befugnisse der Bundesregierung zur Verabschiedung von einseitigen Verordnungen. Man stelle sich vor, die Bundesregierung Schröder hätte die Agenda 2010 per Kabinettsbeschluss beschlossen und Bundestag und Bundesrat vor vollendete Tatsachen gestellt. Man blickt auch mit Staunen nach Griechenland, wo das griechische Parlament über die geforderten Sparmassnahmen debattiert, während die ganze Europäische Union bangt und draussen ein Sturm von Demonstranten tobt. In einer vergleichbaren Situation können (und werden) in Spanien die notwendigen Reformen von der Regierung auf dem Erlasswege mit sofortiger Wirkung verabschiedet.

Das Real Decreto-ley ist deshalb ein doppelschneidiges Schwert: Es ermöglicht der Regierung in aussergewöhnlichen Zeiten eine schnelle Reaktion; verkürzt aber zwangsläufig die parlamentarischen Kompetenzen und damit den sozialen und demokratischen Konsens. Diesem unerwünschten Nebeneffekt kann mit einer nachträglichen Einbringung als Gesetzesentwurf im beschleunigten Verfahren oder blossen Absegnung zwangsläufig nur bedingt begegnet werden. Dies zeigen die sozialen Auseinandersetzungen, die nicht selten auf solche Notverordnungen folgen.

Bei aller Krise, die sich in Spanien zum Dauerzustand entwickelt und bald für jede Änderung herhalten muss, wäre deshalb wünschenswert, dieses Instrument nur mit Zurückhaltung einzusetzen und das Vorliegen der Voraussetzungen für seinen Einsatz in jedem Einzelfall eher zu eng als zu weit auszulegen.

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